15.07.2012
Ruben Vinski schüttelt sich das Wasser aus dem Ohr. Soeben hat ihn ein Helfer rücklings in ein Bassin mit warmem Wasser getaucht. Der Täufer, gekleidet in ein weißes T-Shirt und schwarze Shorts, hatte ihm zuvor geraten, sich die Nase zuzuhalten. Ganz schnell tauchte Ruben Vinski unter. Nun klettert er über eine Edelstahlleiter aus dem Becken. Er schlüpft in seine Badelatschen und lässt sich sein Handtuch reichen - es ist kalt in der Frankfurter Commerzbank-Arena.
Rund 17.000 Zeugen Jehovas aus Hessen, Rheinland-Pfalz und dem nördlichen Baden-Württemberg haben sich hier am Wochenende zu ihrem jährlichen Bezirkskongress versammelt. Seit 1903 gibt es in Deutschland Zeugen Jehovas. Sie orientieren sich an der Lehre des Amerikaners Charles Russell und sind so etwas wie christliche Fundamentalisten. Sie leisten keinen Dienst an der Waffe, wählen nicht, feiern keine Geburtstage und lehnen Bluttransfusionen ab, weil das so in der Bibel stehe. Andere Ausprägungen des Christentums halten sie für falsch. In ihrer Deutschland-Zentrale in Selters im Taunus kümmern sich etwa 1000 „Vollzeit-Diener“ für ein Taschengeld um den Druck ihrer Schriften. Viele Bundesländer haben sie als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt.
In einem großen Pool lassen sich Jugendliche taufen
Etwa 170.000 Mitglieder haben die Zeugen Jehovas in Deutschland. Seit Samstag sind es ein paar hundert mehr. Allein 80 Jugendliche und Erwachsene wurden im großen Pool auf der Tartanbahn des Stadions getauft. In mehreren anderen Städten fanden gleichzeitig Kongresse statt, ebenfalls mit Taufen und den gleichen Ansprachen, so in Dortmund und in Glauchau bei Zwickau. Eine Woche zuvor tagten die Zeugen in der Hamburger Imtech-Arena und im Münchner Olympiastadion, zwei Wochen zuvor im Berliner Velodrom und im Nürnberger Frankenstadion. An den kommenden Wochenenden folgen Kongresse mit Massentaufen in Hannover, Stuttgart und Friedrichshafen. Sogar die Musik ist überall die gleiche: Amerikanisch anmutende Streichersätze werden in die Stadion-Lautsprecheranlage von einer CD eingespielt. Die Liederbücher, die jeder dabeihat, tragen die kitschigen Bilder fröhlicher Menschen, die ähnlich auch die Titel der „Wachtturm“-Heftchen zieren.
Die meisten Täuflinge stammen aus Zeugen-Familien. Einige sind aber auch durch Freunde oder ihren Ehepartner zu ihrem Glauben gekommen. Ruben Vinski, ein 34 Jahre alter Bankkaufmann aus Mannheim und Vater zweier kleiner Jungen, kennt die Zeugen Jehovas durch seine aus Kroatien stammenden Eltern. Doch er ging nicht mehr in die Versammlungen, seit er 20 war. Seine Frau Paulina, ursprünglich katholisch, kam über Vinskis Eltern dazu. „Vor genau fünf Jahren wurde ich hier getauft“, erzählt sie, als sie auf ihren Mann wartet, der sich in der Spieler-Umkleide anzieht. Heute hat sie Tränen der Rührung in den Augen: „Es macht mich glücklich, dass jetzt für uns beide gemeinsam Jehova an erster Stelle steht. Und dass wir gemeinsam eine Hoffnung auf ewiges Leben haben. Sonst wäre doch alles umsonst.“
144.000 Plätze sind im Himmel reserviert
Sie tupft sich vorsichtig mit einem Papiertaschentuch die Tränen ab, damit die Wimperntusche nicht verläuft. Ihr Schwiegervater, überglücklich wie sie, findet auch den Aspekt des ewigen Lebens am wichtigsten: „Sehen Sie, ich bin schon 70. Wenn es Jehova nicht gäbe, was wären wir? Ich habe mich nur dreimal umgeschaut, und schon bin ich alt, und das Leben ist fast vorbei.“
Dabei ist das mit dem ewigen Leben eine schwierige Sache bei den Zeugen Jehovas. 144.000 Plätze sind nach ihrer Lehre im Himmel reserviert. Die meisten davon allerdings, meint Patric Kutscher, ein 52 Jahre alter Rhetorik- und Verkaufs-Trainer, der Ruben Vinski zwei Jahre lang durch das Studium der eigenen Bibelübersetzung der Zeugen Jehovas auf die Taufe vorbereitet hat, seien wohl schon besetzt. Für alle anderen gebe es ein ewiges Leben im „Paradies auf Erden“, das Jehova nach dem Ende der Welt wieder errichte.
„Das muss man sich so vorstellen wie jenen schönen Garten, aus dem Adam und Eva nach dem Biss in den Apfel vertrieben wurden, ganz ohne Sorgen“, sagt Kutscher. Aber nur die „Treuen“ können dort leben, also Zeugen Jehovas. Falls sie vor Harmagedon, dem grausamen Weltende aus Erdbeben, Tsunamis, Atomkatastrophen und Feuerstürmen, gestorben sein sollten, werden sie wieder auferweckt. „Untreue“ - also alle, die keine Zeugen sind - sterben in den Feuerstürmen und bleiben tot. Kutscher glaubt, dass er das Paradies noch erleben wird. Denn immer mehr Zeichen deuteten auf das nahende Weltende hin.
Das Leben auf dieser Welt wird dann gleich weniger wichtig. Aussteiger berichten, wie gefährlich kurzfristig die Perspektive wird: Es lohne sich nicht, ein Hochschulstudium aufzunehmen, in eine Lebensversicherung einzuzahlen oder ein Haus zu bauen - stattdessen solle man seine Kraft dem Predigtdienst widmen oder ins „Bethel“ (Haus Gottes) in Selters eintreten. Freundschaften zu Andersgläubigen werden sinnlos - denn die werden ohnehin bald alle sterben. Auch rät die Gemeinschaft der Zeugen dazu, Beziehungen vor allem untereinander zu pflegen.
„Ich würde sonst keinen Sinn sehen in dieser Welt im Chaos“
Der 17 Jahre alte Ruben Gartmann aus der Nähe von Hockenheim gehört ebenfalls zu den Neugetauften - biblische Vornamen sind in Zeugen-Familien beliebt. Ruben sitzt wie sein älterer Namensvetter mit Anzug und Krawatte in einer der Stuhlreihen neben dem Pool. Er hat in mehreren Vorträgen am Vormittag gehört, wie man sich vor vorehelichen sexuellen Beziehungen, vor ehelicher Untreue, Götzendienst und Trinkgelagen hüten kann. Die Ansprache vor der Taufe mündet in die Fragen: „Hast du auf der Grundlage des Opfers Jesu Christi deine Sünden bereut und dich Jehova hingegeben, um seinen Willen zu tun?“ Und: „Bist du dir darüber im Klaren, dass du dich durch deine Hingabe und Taufe als ein Zeuge Jehovas zu erkennen gibst, der mit der vom Geist geleiteten Organisation Gottes verbunden ist?“ Die Täuflinge rufen unter dem Applaus des Stadionrunds: „Ja!“
Während der Taufe packen die Zuschauer auf den Tribünen Brötchen, Nudelsalat und Frikadellen aus. Die Zeugen Jehovas sind geübte Selbstversorger, und die Imbissbetriebe des Stadions sind geschlossen. Der Eintritt ins Stadion ist frei. Etwa 2000 ehrenamtliche Ordner sorgen für einen geregelten Ablauf. Sogar den Putzdienst übernehmen die Kongressbesucher selbst. Ein Tresen mit dem großen Schild „Reinigung“ steht im Eingangsbereich. Einsatzfreudige Damen holen sich hier Putzutensilien und eine Anweisung ab, für welchen Bereich sie am Ende des Tages zuständig sind.
Ruben steht da schon mit seinen stolzen Eltern am Ausgang. Die Familie will noch essen gehen und am nächsten Tag wiederkommen. Der Mechatroniker-Lehrling besucht schon seit Jahren die „theokratische Predigtdienstschule“ in seinem „Königreichssaal“. Dort lernt er öffentlich vorzulesen, Referate in den Versammlungen zu halten sowie fremde Menschen auf der Straße und an Haustüren anzusprechen. Jeden Samstag reserviert er dafür einige Stunden. Die Familie geht dreimal jährlich zu solchen Kongressen. „Ich würde sonst keinen Sinn sehen in dieser Welt im Chaos“, sagt die Mutter. Und warum der Vater mitmacht? „Offenbarung Kapitel 21, Verse 3 und 4!“ Er zitiert: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein.“ Vor der Commerzbank-Arena sehen aber eigentlich alle ganz fröhlich aus.
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