Ehinger Zeugen Jehovas besuchen Gehörlose
Die Ehinger Zeugen Jehovas haben ihre gezielte Suche nach Gehörlosen in der Region Ulm und im Kreis intensiviert. Sie versprechen diesen per Gebärdensprache, dass sie im Paradies wieder werden hören können.
Zurück
Foto: Marlene Müller1 von 2Der Königreichssaal der Ehinger Versammlung der Zeugen Jehovas ist in diesem Haus in der Dieselstraße öffentlich zugänglich. Die Ehinger haben auch eine russische Gruppe und eine für gehörlose Menschen.
Vor
Kurz nach zehn Uhr klingelt es am Sonntag an einer Wohnungstür im Raum Ulm. "Guten Tag, wir sind eine Gehörlosengruppe aus Ehingen und suchen nach gehörlosen Menschen. Kennen Sie vielleicht jemanden?", fragt ein junger, adretter Mann mit freundlichem Gesicht über die Video-Sprechanlage. Dass er mit seinem Begleiter von den Zeugen Jehovas kommt und über die Bibel sprechen will, sagt er erst später, als nachgehakt wird.
Ein "nein, danke" reicht, und die Anhänger der Glaubensgemeinschaft gehen wieder, aber der Vorfall ist für die Bewohner unheimlich. Denn in der Wohnung lebt eine Frau, die einseitig taub ist und in Ehingen arbeitet. Und eine Recherche im Internet, wo Gehörlose von Ähnlichem berichten, erhärtet den Verdacht, dass hier gezielt geklingelt worden ist. Zwar hält die Betroffene mit der Tatsache, dass sie vor einigen Jahren auf der einen Seite ihr Gehör verloren hat, im Allgemeinen nicht hinter dem Berg. Aber jemand, der sie kennt, käme nicht auf die Idee zu meinen, dass sie deswegen in Gebärdensprache sprechen muss. Ist der Gedanke daran abwegig, dass die Information vielleicht aus der Datenbank eines HNO-Arztes gezapft wurde, wo vielleicht nur als Eintrag steht: "Gehörverlust"? Haben Bekannte oder Nachbarn gegenüber Zeugen Jehovas erwähnt, dass sie den Gehörverlust hatte? Etliche Spekulationen kommen auf und hinterlassen einen faden Beigeschmack.
Fakt ist, dass die Glaubensgemeinschaft mit Status der Körperschaft öffentlichen Rechts sich umhört, wo Gehörlose wohnen und diese dann aufsucht, um die "frohe Botschaft" der Bibel mit ihnen zu besprechen. Das räumt der Sprecher der Ehinger Versammlung, Roland Reichert, auf Anfrage zu dem beschriebenen Fall ein: "Wir fragen in Gesprächen nach, wo eventuell Gehörlose zu finden sind. Es kann genauso gut sein, dass Hörende in der Umgebung zu uns gesagt haben: Hört mal, da gibt es jemanden in Ulm oder Neu-Ulm."
Sieben Hörende aus Ehingen haben sich extra für diese Besuche in Gebärdensprache ausbilden lassen, informiert Reichert. Und man habe diese Ansprachen in letzter Zeit in der Tat intensiviert, auch wenn es die Einheit bereits seit 2008 gibt. Da die Ulmer Versammlung keine Gruppe für deutsche Gebärdensprache hat, liege das Einzugsgebiet der Ehinger etwa im Radius von 50 Kilometern. Dass die Aktiven bei ihren Hausbesuchen einen Datensatz mit Adressen abarbeiten, wie Betroffene vermuten, bestreitet Reichert: "Wir erfassen dazu zentral keine personenbezogenen Daten; das ist laut Datenschutzrecht nicht erlaubt."
Gehörlosenverbände und Aussteiger berichten von diesem gezielten Gebaren der Zeugen in ganz Deutschland. Kritiker bemängeln dabei, dass die Menschen mit Behinderung in "ihrer" Sprache angegangen werden, worüber sie sich zunächst freuen. Und es könne daher ein Leichtes sein, sie für die Glaubensgemeinschaft zu gewinnen. "Verzweifelte Menschen lassen sich einfach verführen", sagt etwa die Aussteigern Barbara Kohout von der Augsburger Selbsthilfegruppe "SeelNot". Sie hält Vorträge zum Thema und findet, auf den Hausbesuch angesprochen: "Es ist unheimlich. Mich erreichen derzeit solche verwunderten Anfragen aus dem süddeutschen Raum verstärkt."
Die langjährige Zeugin Jehovas, die in ihrer Zeit in der Gemeinschaft einen immensen Druck und starke soziale Kontrolle von dieser verspürt hatte, berichtet, dass die Missionare generell bei ihren Besuchen Informationen über die Bewohnerzahl und über persönliche Situationen sammeln würden - "ob es Kinder gibt, Alte, Kranke oder eben Menschen mit Behinderungen. Zur Not befragt man die Nachbarn". Diese Informationen würden sorgfältig notiert - "teilweise sogar, worüber man gesprochen hat".
Spezielle Videos in Gebärdensprache werden Kohout zufolge kostenlos an Gehörlose verteilt. Die Ehinger Versammlung findet an ihrem Gebaren nichts Verwerfliches. Reichert: "Auch unsere russische Gruppe geht gezielt zu Haushalten mit russischstämmigen Menschen. Sie erkennt anhand der Namen, wer infrage kommt." Weil Jehovas Zeugen "alle Menschen erreichen wollen, sowohl Hörende als auch Gehörlose", seien die Aktivitäten jetzt verstärkt worden. "Um Sie einzuladen, zu unseren öffentlichen Gottesdiensten zu kommen. Da ist nichts Geheimes dran. Gehörlose liegen uns sehr am Herzen. Auch sie können aus der Bibel Hoffnung schöpfen, denn sie sagt: ,Zu jener Zeit werden die Augen der Blinden geöffnet, und die Ohren der Tauben, sie werden aufgetan (Jes. 35,5). Diese Worte wird Gott im künftigen Paradies erfüllen."
Gruppenleiter der Ehinger Gehörlosengruppe der Zeugen Jehovas ist Micha Witkowski. Derzeit kommen vier bis sechs Gehörlose zu Gruppenzusammenkünften, um per Video und mittels spezieller DVD anhand von Stellen aus dem Alten und Neuen Testament Fragen zu beantworten wie: Warum lässt Gott Leid zu, was ist unter Gottes Königreich zu verstehen, wer ist Jesus und was bringt die Zukunft. Der Gruppe gehört auch ein Taubblinder an, der per Gebärdensprache in die Hand "sprechen" kann.
Info
Bei der eingangs im Text erwähnten Person mit Taubheit auf einem Ohr handelt es sich um die Autorin des Artikels.
Bei der eingangs im Text erwähnten Person mit Taubheit auf einem Ohr handelt es sich um die Autorin des Artikels.